Freitag, April 01, 2005

"Gutes" Radio in Mexico City


Vor ziemlich genau einem Jahr wurde der innovative Radiosender Radioactivo 9/85 von den Verantwortlichen der Grupo Imágen von einen Tag auf den anderen einfach abgeschaltet und durch eine langweilige Politik-Station ersetzt (die, wie ich höre, kein Mensch intoniert).

Damals, am 12. April 2004 schrieb ich:
"Mein Lieblings-Radiosender, die innovativste, kultur-orientierteste, informativste - schlicht: die beste Radio-Station in Mexico-City ist überraschend abgemurkst worden - von Gewinn-orientierten Investoren, die Kultur so wenig interessiert wie eine Kuh auf der grünen Wiese und denen Gras (= Moos, Kies, Piepen) näher ist.

Ich übersetze einen Artikel aus der Zeitung El Universal von Kar-Freitag 2004 (das Original ist zu finden im Artikel El rock and roll no tiene la culpa):

    Von Carlos Meraz
    Der Rock'n'Roll ist nicht Schuld
    Mit dem Verschwinden von Radioactivo tritt das junge Radio in eine Krise; verschiedene Künstler gestalten ihre Promotionen um

    Vor fast 11 Jahre leitete die Station 98/5 einen radioaktiven Prozeß ein, der das jugendliche Radio, gebeutelt durch das Debakel und spätere Verschwinden von Rock 101, seit 1993 erneuerte; die Wellen von Kreativität mit alternativen musikalischen Vorschlägen, attraktiven Spezial-Programmen, genialer Eigen-Werbung, Kino-Wettbewerbe und so weiter sterben mit der Herausnahme aus der UKW-Welle, überraschend verkündet, aber nicht erklärt, letzten Freitag.

    Die Geschichte ist traurigerweise die gleiche... Wie immer ist der Radiohörer derjenige, der am wenigstens interessiert und den man nie vorher informiert, und wär's nur aus Respekt zu ihm, über eine Änderung seines Alltags und notwendigen Unterhaltung. Das ist nur ein Ideal eines Kommunikations-Medium, das von Anfang bis Ende alles seinem Publikum verdankt.

    Verdächtigt erscheint die Entscheidung der
    Grupo Empresarial Ángeles, geführt von Olegario Vázquez Raña, die vor fast einem Jahr 85% der Aktionen der Grupo Imagen kaufte, das Format einer innovativen Radio-Station und letzten musikalischen Bastion eines jungen Publikums zu ändern in eine mehr gesprochene und mit Nachrichten, die, in diesem Fall, von Ricardo Rocha geleitet wird. Als ob das Radio nicht schon genug Nachrichten-Stationen hätte! Der Rock ist nicht Schuld und noch viel weniger das große Publikum von Radioactivo, für das -so bestätigt es der Ex-Direktor und Gründer von Radioactivo, José Álvarez- die Vertragsnehmer der elektronischen Medien dafür optieren, "Macht und Autorität zu erlangen und dabei etwas vernachlässigen und zurücklassen, die Kultur. Die Nachrichten-Sender sind die, die die meiste Werbung verkaufen, aber die, die das geringste rating haben... Zweifellos sind die Blicke auf die Präsidentenwahlen gerichtet und sie wollen Gewicht haben im Jahre 2006."

    Obwohl es sich wie ein Klischee anhört: Mexico ist ein Land der Jugendlichen und Radioactivo widmete sich mehr als ein Jahrzehnt diesem großen Markt, aber nicht nur mit Musik, sondern auch mit Exklusiv-Sendungen wie die zum Thema Sex; Sendungen online mit Audio und Video; Berichterstattungen von Festivals (Reading, Glastonbury, Woodstock, Coachella und dem Filmfestival von Cannes) und bewaffneten Konflikten in Bosnien, Israel und Sarajevo.

    Außerdem poetische Lesungen von Jordi Soler oder die Unverschämtheiten von Olallo Rubio, die Hitparaden an jedem Ende des Jahres, die talk shows und Programme zu Rap, Hip Hop oder Alternativer Musik; Spezial-Platten-Ausgaben zu jedem Geburtstag der Station, Exklusiv-Konzerte und die Förderung neuer Talente des nationalen Kinos mit dem Kurzfilm-Wettbewerb
    Máximo 9 minutos 85 segundos.

    All dies interessierte nicht zum Zeitpunkt der Entscheidung. Und wenn mit Radioactivo das Radio mit jugendlichem Zuschnitt und Anglo-Format schon in der Krise war wegen fehlender Konkurrenz, ist es heute wie schon einmal -wie der andere Star-Moderator Martín Hernández sagt- verdammt dazu, zu "einem Luxus-Artikel im Vergleich zu vielen populären Stationen zu werden, die nur ein sehr billiges Produkt anbieten", zu einem Geschäft, das man einfach wegwerfen kann, ohne daß es interessiert, daß es Nachfrage gibt.

    Mit seinem Ende wankt ein sowieso schon sensibler Musik- und Radio-Markt. Die Platten-Firmen, die ihre nächsten Veröffentlichungen plazieren wollen (Morrissey, Graham Coxon, Alanis Morissette, PJ Harvey, The Streets und Cowboy Junkies, und viele andere mehr) ändern ihre Pläne zwischen Órbita 105.7, Universal Estereo und der experimentellen Radio Ibero, einzige Vertreter der Rockmusik, die der Stadt mit mehr als 20 Mio. Einwohnern bleiben.

    Zu denken, daß mit der Anhäufung von Nachrichten-Sendungen im Radio werde eine informierte und politisierte Bevölkerung entstehen, ist fast genauso als zu glauben, daß der Rock die Schuld hat an dem, was hier passiert. Oder stimmt das etwa?
    "


Seit dem 14. November 2004 gibt es neue Hoffnung: das IMER hat José Enrique Fernández angestellt und dieser hat sämtliche IMER-Radiostationen neu konzipiert; unter anderem die (für mich) langweilige und mitunter dumme Órbita 105.7.
Ergebnis: die neue Station Reactor 105 auf der Frequenz 105.7 FM mit alten Bekannten aus Radioactivo-Zeiten: Raúl David Rulo Hernández, Julio Martínez und Francisco Sopas Alanís.
Bis jetzt hängt die Station immer noch etwas in der Luft, weil ein klares Konzept irgendwie nicht zu erkennen ist. Ich hoffe aber, dass das mit der Zeit noch kommt.

Jedenfalls gibt es Hoffnung in der Ciudad de la Esperanza.